von Manfred Papst
Ein früher und fester Bestandteil der Jazz- Geschichte. Ein willkommenes Objekt für Erweiterungen und Experimente. Einige unsystematische Bemerkungen zur Posaune.
Erschienen im Magazin „Jazz Podium“, Ausgabe 11/2022.
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Als es darum ging, die Mauern Jerichos zum Einsturz zu bringen, wie die Bibel berichtet, zogen die sieben Priester des Volks Israel sieben Mal um die Stadt und bliesen dabei in ihre Posaunen. Das Instrument verfehlte seine Wirkung nicht. Auch am Ende der Zeiten wird es wieder zum Einsatz kommen. So steht es zumindest in Goethes Sonett „Warnung“: „Am jüngsten Tag, wenn die Posaunen schallen / Und alles aus ist mit dem Erdeleben, / Sind wir verpflichtet, Rechenschaft zu geben / Von jedem Wort, das unnütz uns entfallen.“
Die Posaune hat also eine lange und eindrückliche Geschichte vorzuweisen. Auch im Jazz hat sie eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen: vom simplen Rhythmus- und Harmonie-Vehikel in den Marching Bands bis zum anspruchsvollen Soloinstrument, auf dem innovative Virtuosen die abenteuerlichsten Klangexperimente anstellen.
Die Anfänge waren allerdings bescheiden: Im traditionellen New Orleans-Jazz war die Posaune kaum mehr als ein „geblasener Kontrabass“, der harmonisch und rhythmisch den Boden für die Melodieinstrumente wie Trompete und Klarinette legte. Mit tiefen Blechblasinstrumenten, auch mit klobigen wie dem Sousaphon, der Tuba oder eben der Posaune, ließ sich immerhin marschieren, was mit dem Kontrabass eher schwierig war. (In seinem frühen Film „Take the Money and Run“ hüpft Woody Allen cellospielend in einer Marching Band mit.)
Die Posaune ist im Vergleich mit der Trompete sowie den Mitgliedern der Saxophonfamilie ein ungelenkes Instrument: Nicht die flinken Finger bewegen die Ventile und Klappen, sondern der ganze Arm muss den Zug bedienen. Es ist deshalb schwierig, schnelle Läufe zu spielen. Schon die Exposition scharfkantiger Bebop-Themen ist kaum zu bewältigen, von sprudelnden Soli, wie sie aus einem Altsaxophon quellen, kann der Posaunist nur träumen. Dafür kann er mühelos gleitende Töne erzeugen.
Mit den Limiten ihres Instruments können Musiker stets auf zweierlei Weise umgehen: Sie können sie respektieren und sich innerhalb von ihnen möglichst natürlich bewegen, oder sie können an die Grenzen gehen oder diese sogar sprengen. Sie können also gewissermaßen mit dem Material oder gegen das Material spielen. Beide Strategien lassen sich im Jazz beobachten. Eine gewisse sportive, kompetitive Seite ist ihm ohnehin oft eigen. Das Unmögliche möglich machen und sogar als kinderleicht erscheinen lassen: Dieses Ideal der Zirkusartistik ist aus dem Jazz nicht wegzudenken.
Erste Schritte über den „geblasenen Kontrabass“ hinaus wagen Posaunisten schon im Jazz der 1910er-Jahre. Kid Ory etwa, der die damals populärste Band in New Orleans leitet, setzt seine Glissandi effektvoll zwischen die Melodielinien der anderen Bläser. In den 1920er-Jahren erweitert Charlie Green, der sich mit seinem Freund und Konkurrenten Jimmy Harrison schon richtige „Battles“ liefert, das Klangspektrum der Posaune in Richtung expressiver Blues-Phrasen; auf seinen Aufnahmen mit der Sängerin Bessie Smith hört man das besonders gut. Harrison wiederum, der vielen als der wichtigste Posaunist im älteren Jazz gilt, aber schon 1931 mit dreißig Jahren starb, ist auf Aufnahmen mit dem Orchester von Fletcher Henderson zu bewundern.
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YouTube-Inhalte anzeigenJoachim-Ernst Berendt hat in seinem grundlegenden, 1953 erstmals erschienen „Jazzbuch“ vier teilweise nebeneinander verlaufende, sich aber auch überschneidende Stammbäume der Posaunisten im Jazz skizziert, auf die verwiesen sei: Sie führen unter anderem von Kid Ory über Trummy Young zu J.J. Johnson sowie von Miff Mole, Jack Teagarden und Tommy Dorsey, dem Dreigestirn des Chicago-Stils, zu Bill Harris und Kai Winding. Die spätere Entwicklung gleicht einem Delta: Man müsste mehrere Dutzend Namen nennen, um nur schon den wichtigsten Strömungen und ihren Exponenten gerecht zu werden. Ein hoffnungsloses Unterfangen! Bob Brookmeyer, der Meister der Ventilposaune, Curtis Fuller, der versatile Hardbop-Virtuose, Slide Hampton, der Leiter mehrerer reiner Posaunen-Ensembles, Jimmy Knepper, der so eigenständige wie treue Gefährte von Charles Mingus – sie alle hätten eigene Würdigungen verdient.
Einigkeit besteht darüber, dass J.J. Johnson (1924–2001) der bedeutendste Posaunist seines Zeitalters war. Zum einen war der „Dizzy Gillespie der Posaune“ ein eminenter Techniker: Die Leichtigkeit, Schnelligkeit und Genauigkeit seines Spiels blieben unübertroffen; zum andern aber überwand Johnson die dem Bebop inhärente Tendenz zur floskelhaften Brillanz in Richtung motivisch entwickelter Soli, und er war auch offen für modale Spielweisen. Mit seiner Breite und Konstanz warf er einen großen Schatten. Erst Mitte der 1960er-Jahre gelang es einer jüngeren Generation von Posaunisten, aus diesem Schatten herauszutreten und dem Instrument neue Klangräume zu eröffnen: Die Namen der Amerikaner Grachan Moncur III, Roswell Rudd, George Lewis und Julian Priester, des Österreichers Radu Malfatti, des Slowenen Vinko Globokar und des Deutschen Günter Christmann mögen hier stellvertretend für viele andere stehen.
Einen besonderen Eintrag in den Annalen der Jazzposaune verdient der Frankfurter Albert Mangelsdorff (1928–2005), der die Möglichkeiten des Instruments durch sein mehrstimmiges Spiel entscheidend erweiterte. Indem er Töne anblies und gleichzeitig ins Mundstück sang, erzeugte er obertonreiche Multiphonic, die wie Akkorde klingen. Diese Technik ist an sich schon eindrücklich; entscheidend aber ist, wie Mangelsdorff sie für eine ganz eigenständige poetische Ausdruckskunst nutzte. Seine Erfindungskraft erlaubte es ihm, ähnlich wie Paul Rutherford in Großbritannien, der ebenfalls die Multiphonics-Technik beherrschte und 1974 sein erstes Soloalbum veröffentlichte, in abendfüllenden Solokonzerten kohärente Assoziationsketten zu entwickeln, denen ein aufgeschlossenes Publikum gebannt folgte. Mangelsdorffs Klangsprache – wie auch diejenige seiner Kollegen, der Brüder Conny und Johannes Bauer in der damaligen DDR – schuf eine neue Musizierhaltung, die dazu beitrug, den europäischen Jazz von der US-amerikanischen Dominanz zu lösen und als eigenständige Kunst zu etablieren. Dass es in der deutschen, österreichischen und schweizerischen Szene heute so viele Posaunisten von Rang gibt, man denke nur an Nils Wogram, Roland Dahinden, Samuel Blaser, Christian Muthspiel oder Christian Radovan (ehemals Vienna Art Orchestra), hat viel mit Albert Mangelsdorffs Wirken zu tun.
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YouTube-Inhalte anzeigenDie Posaune konnte sich immer auf ihre Heimstatt im Dixieland und Swing verlassen. In den Bigbands war sie ohnehin unentbehrlich, und einige Posaunisten wie Chris Barber oder Peter Herbolzheimer waren Bigband-Leader. Sie hat aber auch im Modern Jazz, in der Avantgarde, im Free Jazz, in der Fusion-Musik jeglicher Couleur ihren Ort gefunden. Nils Landgren zum Beispiel beweist mit seiner Funk Unit, dass man auf der Posaune auch schweißtreibend grooven kann. Und was wäre die Bläsersektion von James Brown ohne den Posaunisten Fred Wesley gewesen? Einer der originellsten Köpfe – und ein ausgesprochen humorvoller Musiker – ist auch der aus Chicago stammende Posaunist Ray Anderson.
Bisher war in dieser kleinen Skizze nur von Posaunisten die Rede, und tatsächlich galt das sperrige Instrument lange als Männerdomäne. Heavy Messing! Wer auf Google den Suchbegriff „Posaunistinnen“ eingibt, erhält als erstes die Rückfrage: „Möchtest du es hiermit noch einmal versuchen? Pianistinnen?“ In der Wikipedia-Liste von Posaunisten, die „umfassende Bekanntheit erlangt haben und die Relevanzkriterien erfüllen“, finden sich neben 264 Männern gerade einmal 16 Frauen; die jüngste von ihnen ist die 1999 geborene Spanierin Rita Payés Roma.
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YouTube-Inhalte anzeigenAls Pionierinnen der Posaune gelten Melba Liston (1926–1999) und Sheila Tracy (1934–2014). Liston zählte zu den wenigen Musikerinnen, die in der männerdominierten Jazzszene früh anerkannt wurden; 1943 spielte sie in der Bigband von Gerald Wilson – zusammen mit Dexter Gordon, der sie zu ersten Aufnahmen ermutigte. 1958 nahm sie mit einer All-Woman Band ihr einziges Album als Leaderin auf (Melba And Her Bones; später arbeitete sie als Komponistin und Arrangeurin für Randy Weston, Charles Mingus und andere.
Auch die Britin Sheila Tracy spielte in den 1950er-Jahren in reinen Frauenbands, machte sich später aber vor allem als Radiomoderatorin einen Namen. Die wohl populärste Posaunistin der letzten Jahrzehnte ist die 1955 in Oldham geborene Engländerin Annie Whitehead, die mit einem Who’s Who der Jazz- und Rockszene zusammengearbeitet hat. Sie wirkte in Chris McGregors Brotherhood of Breath sowie im Penguin Café Orchestra und in der Bigband von Carla Bley mit; zudem gründete sie die aus zwölf Musikerinnen bestehende Vortex Foundation Band.
Warum aber sind Posaunistinnen nach wie vor so selten? Ein Grund liegt sicher in den physischen Anforderungen, die das Instrument abschreckend wirken lässt: Es verlangt starke Arme, kräftige Lungen und eine stete Anspannung der Lippenmuskulatur. Zudem hat man mit ihm nicht gerade die besten Karriereaussichten. Hinzu kommt, dass die Posaune in ihrer elementaren Ausdrucksvarianz doch limitiert ist. Ihr Klang ist zwar warm, aber auch dumpf.
Selbst ein Virtuose wie Curtis Fuller wirkt, wenn er mit einem John Coltrane, Benny Golson oder Louis Andrew Donaldson spielt, wie ein Tapir, der mit Geparden um die Wette rennt. Das gefällt zwar dem Publikum, doch wer will im Wettstreit immer der Tapir sein? Obwohl auch der ein besonderes Tier ist – und Sachen kann, von denen der Gepard nichts weiß.
Dieser Beitrag erschien im Magazin „Jazz Podium“, Ausgabe 11/2022.
Manfred Papst, geboren 1956 in Davos, spielte von 1966 bis 1969 in der Knabenmusik Davos Posaune.
Er studierte Sinologie, Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich. Von 1989 bis 2001 war er Programmleiter des NZZ-Buchverlags, seit 2002 ist er Ressortleiter Kultur der NZZ am Sonntag. Er hat zahlreiche Publikationen zu Literatur und Musik verfasst.
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