Rezension: „Casta Diva“ – Der schwule Opernführer

Neue Perspektiven auf bekanntes Repertoire

von David Rauh (25.10.2023)

Die Veröffentlichung eines „schwulen Opernführers“ ist ein Statement und die Notwendigkeit eines solchen kann vorschnell abgetan werden. Es gibt doch schon zahlreiche Opernführer – bei Stretta Music zählen wir über 40 –, braucht es da noch einen, ausgerechnet zu diesem Thema? David Rauh hat sich das samtig-pinke Buch genauer angeschaut und zieht sein Fazit: Ja, und es darf ruhig noch mehr geben!

Überblick

  • Herausgeber: Rainer Falk, Dr. Sven Limbeck
  • Verlag: Querverlag
  • Erscheinungsjahr: 2019
  • Ausgabe: Hardcover
  • Umfang: 704 Seiten (250 Farbbilder)
  • Geeignet zum : Schmökern, Inspirieren
  • Zielgruppe: Queer Community, Opernfans, Aufgeschlossene
  • Inhalt: 157 Opern von Claudio Monteverdis „L’Orfeo“ (1607) bis hin zu Charles Wuorinens „Brokeback Mountain“ (2014) mit Inhalts- und Personenangaben, Kommentaren sowie Empfehlungen für Literatur und Einspielungen

„Für mich ist Oper queer.“ So leitet Barrie Kosky, der preisgekrönte (mittlerweile ehemalige) Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin, „Casta Diva“ ein. Schließlich assoziiere er wesentliche Dimensionen der Oper mit Homosexualität: „Die Opulenz, die Sinnlichkeit, Körperlichkeit und Emotionalität, die Künstlichkeit und Exaltiertheit, [...] die Melancholie und die Sehnsucht nach Liebe, die so selten erfüllt wird.“ Natürlich kann sie auch explizit homosexuelle Inhalte behandeln, wie jüngst seine Aufführung von „La Cage aux Folles“ (Jean Poiret), nur geschah das in der Oper erst im Laufe des 20. Jahrhunderts.

Nun erwartet uns mit „Casta Diva“ ein seriöser Opernführer, der sich vor allem auf den Kanon der letzten 400 Jahre konzentriert. Deshalb werden gerade für die ersten Jahrhunderte diese assoziativen Perspektiven aufgegriffen, mit den Leitfragen: Welche Aspekte lassen eine homosexuelle Lesart zu oder sind für Homosexuelle interessant?

Die Autor:innen kommen aus der Musik- oder Theaterwissenschaft oder Germanistik, sind etwa Professoren, Journalisten oder Archivare, und kennen sich ausgezeichnet mit der queeren Szene aus. Sie scheinen ihre Worte vor allem an diese zu richten. Das fängt beim Jargon an: Die Kenntnis um Begriffe wie „queer“ oder „camp“ wird vorausgesetzt und man sollte sie einordnen können. Das Glossar, eine lobenswerte Ergänzung, klärt leider nur musikalische Fachbegriffe. Außerdem werden für die Argumentationen allzu gerne homosexuelle Klischees oder Traditionen aufgegriffen. Man muss sich also darauf einlassen können, dass hier – wie typisch im Kontext der Oper – Archetypen geschaffen werden, für die es keinen Platz für individuelle Entfaltungsmöglichkeiten gibt. Dennoch: von dem Buch können alle Opernfans profitieren, weil es einen einzigartigen Blick auf das Repertoire wagt.

Der schwule Opernführer bespricht 157 Werke von 92 Komponisten, angefangen bei Claudio Monteverdi. „Norma“ von Vincenzo Bellini, aus der die titelgebende „Casta Diva“ stammt, bildet gewissermaßen eine zeitliche Mitte. Die Cavatina und ihre losgetretene Geschichte um den Divenkult steht stellvertretend für die ganze Faszination Oper, die insbesondere bei Homosexuellen einen Nerv zu treffen scheint.

Alle Besprechungen beginnen mit einem Kurzporträt der Komponisten. Sind die Komponisten nachweislich homosexuell, so wie Jean-Baptiste Lully, Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, Benjamin Britten oder Siegfried Wagner, wenden sie sich diesem Punkt konsequenterweise ausführlich zu. Bei anderen Komponisten – Georg Friedrich Händel, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert – werden aufgrund biographischer Anzeichen homosexuelle Prägungen vermutet, bei anderen wird ein Fokus auf besonders innige Freundschaften gelenkt, so etwa Wolfgang Amadé Mozarts erste Liebe zum Geiger Thomas Linley, die Vater Leopold unterband, weil er fürchtete, dass die kreative Kraft seines Sohnes verloren ginge.

Nach treffenden Inhaltszusammenfassungen der Werke folgt der spannende Teil des Opernführers, nämlich die Besprechung des Werks mit einem geschärft queeren Blick. Der kann sich so ausdrücken, dass in der Oper die Geschlechtergrenzen immer wieder verschwimmen, etwa wie häufig jungen Männerrollen eine Sopranlage zugewiesen wird (und früher von Kastraten ausgeführt wurde) oder ältere Frauenrollen in Tenorlage singen sollen. Beliebt, besonders in komischen Opern, sind Verkleidungen – der Wechsel von einem Mann zu einer Frau oder umgekehrt (prominentes Beispiel: Beethovens „Fidelio“ ). Da fast immer eine Form von Liebe im Spiel ist, sind homoerotische Untertöne kaum zu übersehen, auch wenn die handelnden Personen sich derer nicht bewusst sind – so die Grundlage der Argumentation. Immer wieder kommt die These einer indirekten erotischen Kommunikation zweier Männer zum Vorschein, wenn sie sich nämlich um dieselbe Frau streiten.

Beispielseite zum Rosenkavalier

Es geht um Außenseiter-Figuren, z. B. durch Überschreitung der Standesgrenze (Georg Philipp Telemanns „Pimpinone“) oder das Widersetzen gegen bestehende Geschlechterrollen. Spannend ist der Blick auf Veränderungen oder Kürzungen des Stoffs: Keine Vertonung des Orpheus-Mythos (Beispiele im Buch: Claudio Monteverdi: „L'Orfeo“, Matthew Locke: „Orpheus and Euridice“, Christoph Willibald Gluck: „Orfeo ed Euridice“) integriert die Hinwendung zur Knabenliebe, nachdem der Protagonist seine Euridice endgültig verloren hat – wenn auch im griechischen Original als moralisch verwerflich dargestellt – ging die Darstellung in der Frühen Neuzeit wohl zu weit. Nicolas François Guillards Libretto zu Glucks „Iphigenie en Tauride“ nimmt subtile Textänderungen gegenüber der literarischen Vorlage vor, sodass die bei anderen neuzeitlichen Umsetzungen des Mythos als bloße Freundschaft wahrgenommene Beziehung zwischen den zwei Männern Pylade und Oreste die Interpretation einer engeren Bindung zulässt.

Ab dem 20 Jh. finden sich nun mehr Opern mit offen homosexuellen Bezügen, wie etwa Charles Wuorinens „Brokeback Mountain“, eine Geschichte über die Liebe zweier Männer, die sie nicht eingestehen bzw. ausleben können. Opern mit historischem Bezug, z.B. Stewart Wallace’ „Harvey Milk“ über den bedeutenden Kämpfer für Rechte von Homosexuellen, werden eher als verzerrend verstanden.

Manche offen queere Werke („Edward II.“ von Andrea Lorenzo Scartazzini) fallen aus der Auswahl heraus. Neben den offensichtlichen organisatorischen Gründen leuchtet auch derjenige ein, dass Lesende schließlich auch die Gelegenheit bekommen sollen, die besprochene Oper selbst zu erleben, ob im Theater oder zu Hause.

Für das Heimkino geben die Autorinnen und Autoren nämlich nach ihrer Besprechung eines Werks ihre persönlichen Videoempfehlungen mit. Dies ist dann erneut interessant, wenn eine queere Interpretation in dieser Produktion hervorgehoben wird.

Abschließend laden Angaben zu weiterführender Literatur dazu ein, den Gesamtzusammenhang zitierter Argumente ganz nachzuvollziehen. Manchmal mag das aufgrund der Kürze der Texte vielleicht nicht auf Anhieb gelingen, gerade wenn die Thesen sich weit vom gängigen Diskurs entfernen (z. B. unterdrücke Mozarts Don Giovanni eine homosexuelle Neigung, indem er sich seinen übersteigerten heterosexuellen Trieben hingibt.)

Zurück zur Eingangsfrage: Braucht es also noch einen (schwulen) Opernführer? Nun, der Bedarf war schon vor der Veröffentlichung da. Das Projekt konnte nur mit Hilfe einer Crowdfunding-Kampagne finanziert werden, die dafür sensationell verlief. Durchschnittlich 93,41 € war den Unterstützer:innen das Buch wert – im Handel ist es für 50 € erhältlich. Wenn dieser Opernführer so viele erfrischende Perspektiven eröffnet, dann hat sich die Investition ausgezahlt. Denn auch wenn man sich vielleicht nicht mit allen Thesen sofort anfreunden kann, so regen sie zum Nach-, Neu- und Umdenken der vermeintlich bekannten Werke an. Gleichzeitig wird man neben neuen Facetten sicher auch neue Werke kennenlernen. Die Texte können dazu beitragen, das Verständnis für die Interessen und Herausforderungen von Homosexuellen früher und heute zu schärfen. Und natürlich pimpt dieses pinke Schmuckstück jedes ambitionierte Bücherregal!

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