Neue Noten für Elise

Klavierstücke von Beethoven in der Wiener Urtext Edition und bei Bärenreiter

von Holger Slowik (10.05.2021)

Abseits der großen Klaviersonaten und Variationszyklen existiert ein ganz eigener Kosmos Beethovenscher Klaviermusik: die Klavierstücke. Eine Neuerscheinung der Wiener Urtext Edition versammelt die Klavierstücke in nie dagewesener Vollständigkeit. Auch zwei neue Ausgaben von Für Elise liefern neue Einsichten in diesen Klavierhit. Wir nehmen die Noten für Sie in den Fokus.

„WoO“ – diese Abkürzung bezeichnet eigentlich eine Unmöglichkeit: Werk ohne opus – ein „Werk ohne Werk“ (= lat. opus)?

Gemeint ist damit ein „Werk ohne Opuszahl“, ein Musikstück also, das zu Lebzeiten seines Komponisten nicht in sein Werkverzeichnis aufgenommen wurde und meist auch nicht im Druck erschienen ist. Die Opuszahl, diese eindeutige ‚Identifikationsnummer‘ eines musikalischen Werks, wird ihm in der Regel erst bei Drucklegung zugewiesen.

Werke ohne Opuszahl – lange galten sie als der ‚Ausschuss‘ eines Komponistenlebens: Fehlproduktionen, Gelegenheitswerke, hier in das Album einer Verehrerin, dort flüchtig in ein Skizzenbuch notiert, vielleicht zur späteren Verwendung, bald vergessen. Auch Ludwig van Beethoven hat Zeit seines Lebens zahlreiche solcher Stücke komponiert – noch so ein Hilfsbegriff: keine Sonate, kein großer Variationenzyklus, nur ein ‚Stück‘.

Seine sämtlichen Klavierstücke sind nun in einem Band der Wiener Urtext Edition in noch nie dagewesener Vollständigkeit erschienen. Diese von Jochen Reutter herausgegebene Sammlung zeigt vor allem eins: Solche kleinen, meist gar nicht für das große Publikum bestimmten Stücke sind mitnichten der ‚Ausschuss‘, sondern vielmehr der ‚Überschuss‘ eines Komponistenlebens, in das sie uns einen tieferen Einblick ermöglichen.

Beethoven lernt

Die zeitlich frühesten Stücke des Bandes gewähren uns einen Einblick in die Ausbildung Beethovens, bei der Das Wohltemperierte Klavier von Bach eine wichtige Rolle gespielt hat: Präludien und Fugen des Teenagers Ludwig, die wohl auch im Kontext seiner ersten Anstellung als zweiter Hoforganist in Bonn stehen.

Die dreistimmige Fuge WoO 215, aus dem sogenannten Kafka-Skizzenkonvolut rekonstruiert, könnte aus der Zeit stammen, als Beethoven mit Mitte 20 bei Johann Georg Albrechtsberger nochmal in die strenge Kontrapunktlehre ging.

Die beiden Rondos WoO 48 und 49 erschienen 1783 bzw. 1784 als Beilage der Zeitschrift Blumenlese für Klavierliebhaber und gehören zu den frühesten Stücken, mit denen der junge Bonner Hofmusiker als Komponist an die Öffentlichkeit trat. Wie das spätere Rondo op. 51 Nr. 1 eignen sich diese beiden Stücke ausgezeichnet für den Klavierunterricht.

Beethoven experimentiert

Dank der zahlreichen erhaltenen Skizzenbücher weiß man, wie sehr auch ein ‚Genie’ wie Beethoven um die endgültige Formulierung seiner thematischen Einfälle ringen musste. Wie viele Vorstufen und verworfene Fassungen gingen einer scheinbar spontan aus der Feder geflossenen Setzung wie dem Beginn der 5. Sinfonie voran!

Der Band der Klavierstücke ermöglicht einen ebenso spannenden Einblick in Beethovens Komponierwerkstatt, wenn auch in ein späteres Stadium des Kompositionsprozesses: Das Andante WoO 57 war ursprünglich als Mittelsatz der Waldstein-Sonate (Grande Sonate C-Dur op. 53) vorgesehen. Das Presto WoO 52 und das Allegretto WoO 53 entstanden während des Kompositionsprozesses der Sonate op. 10 Nr. 1. Beethoven hatte erwogen, eines dieser Stücke als Scherzo bzw. Menuett vor dem Finalsatz einzufügen. Schließlich hielt er aber an der Dreisätzigkeit der Sonate fest.

Es ist ein reizvolles Experiment, diese Einzelsätze wieder in ihren Entstehungskontext zu rücken und die bekannten Sonaten einmal mit diesen Alternativsätzen zu spielen: So hätte Beethoven es sich auch vorstellen können. Solche Experimente helfen, die erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entstandene Idee vom unverrückbaren musikalischen Meisterwerk, vom mit energischer Hand hingeworfenen Geniestreich zu hinterfragen.


Auch in dieser Ausgabe sind die beiden Einzelsätze WoO 52 und 53 enthalten.

Beethoven improvisiert

In einem heute im Bereich der klassischen Musik nicht mehr vorstellbaren Maße waren die Musiker bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vor allem Improvisationskünstler. Auch Beethoven machte sich in der musikalischen Öffentlichkeit Wiens anfangs vor allem dank seiner Improvisationen am Klavier einen Namen. Abgesehen von Berichten der zeitgenössischen Ohrenzeugen sind diese Improvisationen für uns verloren. Allerdings gibt ein Klavierstück wie die Fantasie op. 77 einen Eindruck davon, wie eine Beethovensche Klavierimprovisation geklungen haben könnte.

Als Grundlage einer Improvisation könnten auch die 16 Takte Musik gedient haben, die Beethoven auf einem Skizzenblatt notiert hat, das heute in der Wienbibliothek im Wiener Rathaus aufbewahrt wird – und die bis Januar 2020 unentdeckt geblieben waren. Jochen Reutter, der Chefredakteur der Wiener Urtext Edition, hat sie – am Anfang des Beethovenjahres – entdeckt. Die Veröffentlichung der Noten unter dem Titel Ländlerischer Tanz wurde mittlerweile mit dem Presto Sheet Music Award ausgezeichnet, in der Kategorie „Best Contribution to Beethoven Anniversary“. Auf eine WoO-Nummer muss das Stück zwar noch bis zur nächsten Revision des Beethoven-Werkverzeichnisses warten. In der Sammlung der Klavierstücke Beethovens ergänzt es aber bestens die dort zahlreich versammelten Tanzsätze.

Das kleine Stück als Verkaufsstrategie

Unter den im neuen Band der Wiener Urtext Edition versammelten Werken Beethovens trägt ungefähr ein Viertel eine Opuszahl, die überwiegende Mehrzahl sind WoO’s. Unter den von Beethoven selbst für eine Veröffentlichung vorgesehenen Werken ragen die drei Sammlungen von Bagatellen heraus: ‚Kleinigkeiten‘, wie sie der am Beginn des 19. Jahrhunderts immer mehr für musizierende Laien sich öffnende Musikmarkt gut verkaufen konnte.

Für die Komponisten bedeutete dieser Hunger des Publikums nach ‚Kleinigkeiten‘ die Möglichkeit, den ‚Überschuss‘ ihrer Produktion, die verstreut liegengebliebenen Stücke, Ideen und Skizzen zu überarbeiten und mit neu hinzukomponierten Stücken zu Sammlungen zusammenzufassen. Beethoven tat dies drei Mal: 1803 erschienen die Sieben Bagatellen op. 33, 1823 die Elf Bagatellen op. 119 und 1825 schließlich die Sechs Bagatellen op. 129. Unter diesen Werken sind unglaubliche Entdeckungen zu machen, vor allem hinsichtlich der Modernität Beethovens.

Etwa op. 33 Nr. 3: Bei ihrer Wiederholung kippt die Melodie übergangslos von F-Dur ins weit entfernte D-Dur. Eine für die Zeit verblüffende, die Einfachheit der Melodie kontrastierende harmonische Rückung, die einen Ausblick gibt auf die späte Musik Franz Schuberts.

Oder op. 119 Nr. 6: Das Stück beginnt mit einem viermal wiederholten in sich kreisenden Motiv, weicht dann in einen scherzando-Charakter aus, bevor es das Anfangsmotiv wieder aufgreift und aus diesem ausbricht in eine ungeheure Steigerung, immer höher, schneller und lauter, bis zum abrupten Abbruch. Als wäre man auf der Flucht – aber wer? Der Komponist, der Interpret, die Musik selbst?

Oder op. 119 Nr. 10: eine vor das kantabel-versöhnliche Schlussstück gerückte, wenige Sekunden dauernde, wutentbrannte Ungeheuerlichkeit, zumindest in der Interpretation durch Rudolf Serkin. Bei Grigory Sokolov klingt es eher wie eine Spieluhr. Die Tempobezeichnung Allegramente und die fehlenden Lautstärkeangaben lassen beide Interpretationen zu.

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In diesen Sammlungen der Bagatellen Beethovens liegt die Keimzelle des Charakterstücks für Klavier, das Komponisten wie Robert Schumann zur wichtigsten Gattung romantischer Klaviermusik erhoben haben. Ihre auf engstem Raum versammelte Innovationskraft weist außerdem 100 Jahre voraus auf die Klavierstücke, mit denen Arnold Schönberg (op. 11, op. 19) und seine Schüler die Tonalität hinter sich ließen und die Musik revolutionierten – mit Beethoven als Gewährsmann.

Der neue Band der Klavierstücke von Beethoven in der Wiener Urtext Edition bietet über den sorgfältigen und in den Kritischen Anmerkungen für den Interessierten nachvollziehbar begründeten Notensatz hinaus ideale Bedingungen, sich dem Kosmos der Beethovenschen Klavierstücke auf verschiedene Weise zu nähern: Die Anordnung der Stücke erfolgt pragmatisch nach Opus- bzw. WoO-Nummer und lädt so zum Durchstöbern ein. Das informative Vorwort von Jochen Reutter ordnet die Werke nach Gruppen und hilft, sie in das Gesamtschaffen Beethovens einzuordnen. Eine tabellarische Chronologie bietet einen schnellen Überblick und macht deutlich, dass die Mehrzahl der Klavierstücke in den frühen Wiener Jahren entstand, in denen Beethoven sich als Komponist etablieren – und selbst finden – musste. Die von Sheila Arnold verfassten „Hinweise zur Interpretation“ sind nicht weniger als ein kleines Kompendium zur Aufführungspraxis der Beethovenzeit.

Fast auch eine Bagatelle: Für Elise

Im Zusammenhang mit Beethovens Zusammenstellung der Bagatellen op. 119 taucht auch Beethovens heute bekanntestes Klavierstück, Für Elise, auf. Beethoven hatte das Stück bereits 1808 und 1810 auf verschiedenen Blättern skizziert und weitgehend ausgeführt. Die autographe, einer unidentifizierten Elise gewidmete Reinschrift, die in einer Abschrift als Quelle aller späteren Druckfassungen diente, hat sich nicht erhalten. 1822 schließlich zog er in Erwägung, das Stück in seine geplante Sammlung von Bagatellen aufzunehmen, wofür er den ursprünglichen Entwurf einer – nicht vollständig ausgeführten – Revision unterzog. Die ungeklärten Fragen, die sich um diesen Klavierhit und seine Widmungsträgerin auftürmen, werden durch zwei neue Einzelausgaben nicht geringer, aber zumindest klar benannt.

Die Wiener Urtext Edition hat Für Elise in einer aus dem neuen Band der Klavierstücke Beethovens ausgekoppelten Neuausgabe (Für Elise und Lustig und Traurig) mit dem kleinen Klavierstück Lustig und traurig kombiniert, das Klavierschülern als Vorstufe für den ‚Meilenstein‘ Für Elise dienen kann. In seinem Vorwort trägt Jochen Reutter die Fakten über die Entstehungsgeschichte und die unbekannte Elise auf dem aktuellen Stand der Forschung zusammen. Die Ausgabe bietet zudem eine Neuerung, die Schule machen sollte: In sechs „Antworten auf oft gestellte Fragen“ werden sonst im Kritischen Bericht versteckte philologische Zweifelsfälle dargestellt – warum hier diese Note, warum diese Tempoangabe…? So kompakt präsentiert, wird die musikwissenschaftliche Detektivarbeit, die hinter kritischen Urtext-Ausgaben steckt, auch für Laien nachvollziehbar.

In seiner im Bärenreiter-Verlag erschienenen Neuausgabe (Bagatelle a-Moll WoO 59 – „Für Elise“) bietet der Herausgeber Mario Aschauer Für Elise in drei verschiedenen Fassungen: Neben der vertrauten Fassung der Erstausgabe ermöglicht er einen Einblick in Beethovens Werkstatt, indem er den Entwurf zur Erstfassung und die mit Bleistift eingetragenen Revisionen in diplomatischer Umschrift, inklusive aller Streichungen, präsentiert. Die eigentliche Neuerung seiner Ausgabe ist aber der von ihm vervollständigte Entwurf der zweiten Fassung. So erhält man erstmals eine zwar nicht von Beethoven stammende, aber auf seinen Ideen basierende, spielbare Fassung der letzten Gedanken, die sich Beethoven zu dem Stück gemacht hat, das uns unter dem Namen Für Elise nur allzu vertraut ist.

Ob der neue Band der sämtlichen Klavierstücke oder eine der neuen Ausgaben von Für Elise: Alle drei Neuerscheinungen machen Lust, sich mit dem Beethoven der kleinen Formen neu oder wieder zu beschäftigen. Legt man die Noten der großen Klaviersonaten oder Variationenzyklen, in deren Kontext diese Stücke entstanden sind, daneben auf das Notenpult und nimmt man zusätzlich sogar noch eine gute Beethoven-Biographie, wie etwa Beethoven – der einsame Revolutionär von Jan Caeyers, zur Hand, dann erhält man spannende Einblicke in die Gedankenwelt dieses maßlos kreativen Geistes. Eine beglückende Erfahrung!

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