von Holger Slowik (18.01.2021)
Beim Wort ‚Archiv‘ kommt selten Freude auf. Anders bei der Reihe Joy of Music, die sich der Schott-Verlag zum 250. Geburtstag geschenkt hat: In fünf Bänden werden meist virtuose, manchmal meditative, immer aber unterhaltsame Schätze aus dem Verlagsarchiv der Öffentlichkeit präsentiert. Ein spannender Einblick in die Musikkultur des 19. Jahrhunderts!
Das Wort ‚Archiv‘ weckt meist keine positiven Assoziationen: Kellerräume oder niedrige Dachböden, vollgestopft mit verstaubten Akten, bevölkert höchstens von verhuschten Wissenschaftlern und die Vergangenheit verwaltenden Beamten. Diesen schlechten Ruf haben Archive nicht verdient! Die in ihnen aufbewahrten Dokumente halten die Vergangenheit für uns lebendig: Jedes Stöbern in einem Archiv gleicht einer Abenteuerreise in frühere Zeiten.
Im eigenen Haushalt mag regelmäßiges Ausmisten sinnvoll und die Mentalität des ‚Nichts-Wegschmeißen-Könnens‘ fatal sein – im Fall von Institutionen wie Musikverlagen würde eine solche Haltung im Endeffekt zu einer Verfälschung der Geschichte führen: Wären heute nur noch diejenigen Werke erhalten, die den Weg ins Repertoire gefunden haben und regelmäßig aufgeführt werden, könnten wir uns kein Bild davon machen, in welcher musikalischen Umgebung die heute von uns so geschätzten Komponisten aufgewachsen sind und gelebt haben. Ganz abgesehen davon, dass viele zu ihren Lebzeiten hoch angesehene, dann aber durch das Raster des Ausleseprozesses des Musikbetriebs gefallene Komponistinnen und Komponisten und ihre Werke die Chance verdient haben, zu jeder Zeit neu auf die Probe gestellt und – im besten Falle – wiederentdeckt zu werden.
Zu den umfangreichsten Archiven seiner Art gehört dasjenige des Verlags Schott Music, der im Jahr 2020 – gemeinsam mit Ludwig van Beethoven – seinen 250. Geburtstag feiern konnte. Zum Glück haben die vielen Generationen von Schott-Mitarbeitern so gut wie nichts weggeworfen! Dieses für die Musikgeschichte so bedeutende Verlagsarchiv wurde bereits 2014 von den Staatsbibliotheken in Berlin und München übernommen, wird seitdem wissenschaftlich aufgearbeitet und anhand von Digitalisaten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Angesichts des Verlagsjubiläums hat die aktuelle Schott-Generation das eigene Archiv durchforstet – und aus der Fülle von 24377 (!) im 19. Jahrhundert bei Schott veröffentlichten Werken eine spannende Auswahl getroffen. Entstanden sind so fünf Sammelbände, einer für Klavier solo und je einer für Violine, Violoncello, Flöte und Klarinette mit Klavierbegleitung. Jeder Band enthält etwa ein Dutzend Kompositionen. Das Motto des Verlagsjubiläums – ‚Joy of Music‘ – wurde auch zum Titel der Jubiläumspublikationen. Joy – Freude leitet sich einerseits ab vom wohl berühmtesten Werk, das bei Schott als Erstausgabe erschien: die 9. Sinfonie von Ludwig van Beethoven mit dem Schlusschor über Schillers Ode an die Freude. Andererseits sollen die ausgewählten Werke vor allem eines vermitteln: Freude an der Musik.
Erreicht wird diese Freude nicht gerade auf leichte Art und Weise: Die enthaltenen Werke sind zum Teil hochvirtuos. Laien, die zu den Bänden greifen, sollten ihr Instrument auf fortgeschrittenem Niveau beherrschen; vor allem Musikstudierende finden hier eine Fundgrube an Vortrags- und Zugabestücken. Ausgedrückt mit den üblichen Schwierigkeitsstufen von 1–5: Es finden sich zwar in allen Bänden Stücke der mittelschweren Stufe 3, die meisten bewegen sich aber auf dem Level von Stufe 4 oder gar 5.
Insgesamt sind in den fünf Heften Werke von 63 Komponisten und – leider nur – zwei Komponistinnen enthalten. Nur zwei Komponisten – Charles Gounod und Julius Schulhoff – kommen in zwei verschiedenen Bänden vor, die Auswahl ist sehr abwechslungsreich und individuell auf das jeweilige Instrument abgestimmt. Rund zehn Komponisten können zu denen gezählt werden, die mehr oder weniger ins Repertoire eingegangen sind. Dankenswerterweise kommen sie aber nicht mit ihren Hauptwerken, sondern mit weniger bekannten Stücken vor: Entweder es besteht ein konkreter Bezug zur Verlagsgeschichte von Schott (wie bei Beethovens erster Veröffentlichung beim Mainzer Verlagshaus, seinen Righini-Variationen für Klavier) oder es werden Werke in zeitgenössischen Bearbeitungen vorgelegt (wie Haydns Adagio aus der Sinfonie Nr. 24, bearbeitet für Flöte und Klavier, oder Chopins Mazurka op. 17/1, bearbeitet für Violine und Klavier).
Der Großteil der Komponisten ist heute nur noch wenig oder aus anderem Zusammenhang bekannt und bildet einen spannenden Querschnitt durch das Musikleben des 19. Jahrhunderts. Musiker wie Gottlieb Heinrich Köhler und Caspar Kummer, die beide mit Kompositionen im Flötenband vertreten sind, haben noch die traditionelle Stadtpfeifer-Ausbildung durchlaufen und waren vielseitige, nebenbei auch komponierende Musiker: Köhler etwa wirkte nicht nur als Flötist, sondern auch als Geiger und Pauker im Gewandhausorchester Leipzig. Andere waren auch Instrumentenbauer, die zur Weiterentwicklung ihrer Instrumente Wesentliches beigetragen haben, wie etwa der Flötist Theobald Böhm oder der Pianist Henri Herz. Andere wiederum waren bedeutende Musikpädagogen und sind heute noch durch ihre Schulwerke und Etüdensammlungen bekannt, wie der Klarinettist Carl Baermann und vor allem Carl Czerny, durch dessen Etüden sich Generationen von Klavierschülern gequält haben. Kennt man jedoch sein romantisches Nocturne für Klavier, Le Désir, stimmt man gerne Igor Strawinsky zu, der an Czerny den „blutvollen Musiker“ geschätzt hat. Vertreten sind schließlich auch Werke von den berühmtesten Virtuosen ihrer Zeit, die sich Stücke für den Eigenbedarf geschrieben haben, wie etwa der Pianist Sigismund Thalberg, der sein Publikum auf seiner Amerika-Tournée mit Variationen über das ihm bestens vertraute Volkslied Home! Sweet Home! überraschte.
Die in jedem Band zu findenden „Hinweise zu den einzelnen Stücken“ bündeln kompakte Informationen über die Werke und ihre Autoren. Liest man sie am Stück, ist man erstaunt über die oben nur kurz angedeutete Vielfalt der Biographien. Man gewinnt Einblicke in Lehrer-Schüler-Verhältnisse und Musiker-Netzwerke des 19. Jahrhunderts und staunt über die beginnende Internationalisierung des Musiklebens. Xavier Boisselot zum Beispiel, der im Flötenband mit einem Bolero enthalten ist, studierte in Paris, wirkte dort und in London und beendete seine Karriere als Dirigent in Shanghai. Dass Schott seit 1835 auch eine Niederlassung in London unterhielt, lässt sich am Violoncelloband ablesen: Die beiden dort vertretenen Komponistinnen Ethel Barns und Ethel Harraden waren hochangesehene Akteurinnen im britischen Musikleben. Aus der Reihe tanzt bei aller Internationalität trotzdem der Pianist Louis Moreau Gottschalk. Das Leben des Komponisten von Le Banjo. Esquisse américaine für Klavier war wohl ein reines Abenteuer: Geboren in New Orleans und ausgebildet in Paris, tourte er mit zwei Flügeln und einem Sonderzug durch die vom Bürgerkrieg erschütterten USA, floh wegen einer Affäre nach Südamerika, wo er vierzigjährig an Malaria starb.
À propos Le Banjo: Neben vielen Charakterstücken und Variationswerken – vor allem über Melodien aus beliebten Opern – enthalten die Bände viele Stücke, aus denen man die im 19. Jahrhundert wachsende Faszination der Mitteleuropäer für alles Exotische herauslesen kann: La Paloma von Sebastián de Yradier, Ein Arabisches Klagelied von Jenö Hubay oder das Allegro alla Spagnuola von Giulio Briccialdi. Dazu gehörte auch die Begeisterung für die Exotik vor der eigenen Haustüre: Das 19. Jahrhundert erschloss die Alpen nicht nur touristisch, sondern auch musikalisch. Das Alpenlied von Joseph Küffner und Ein Abend auf den Bergen von Carl Baermann, beide im Klarinettenband, legen davon Zeugnis ab. Letzteres Werk stellt, mit in die Noten geschriebenen Stationen einer Bergwanderung, einen kammermusikalischen Vorläufer der Alpensinfonie von Richard Strauss dar. Ein besonderes, im geforderten Tempo fast unspielbares Schmankerl ist die Etüde Le Chemin de Fer von Charles-Valentin Alkan, wohl das früheste Beispiel des kleinen aber feinen Genres der Eisenbahn-Musik.
Die einzelnen Bände folgen dem Notentext der Erstausgaben, ein kritischer Bericht ist nicht vorhanden und auch nicht vonnöten. Druckfehler der Originalausgaben wurden berichtigt. An einer Stelle konnte – auch das gehört zur Verlagsgeschichte – ein massiver Fehler nach 150 Jahren wieder gut gemacht werden: In der Erstausgabe von Giulio Briccialdis Allegro alla Spagnuola für Flöte und Klavier wurden mitten im Stück in der Partitur 20 Takte schlichtweg vergessen. Sie konnten aus dem vorhandenen Archivmaterial rekonstruiert werden.
Liebhaber des traditionellen Notenstichs werden übrigens in der Reihe Schott Archive fündig, in der das Mainzer Verlagshaus schon seit längerem seine Archivschätze als Reprints der historischen Ausgaben zugänglich macht.
Mit den fünf Bänden der Reihe Joy of Music hat Schott Music sich und uns ein schönes Geburtstagsgeschenk gemacht, in dem man viel entdecken kann. Wir werden zurückversetzt in die musikalischen Salons des 19. Jahrhunderts, in denen es noch keine strikte Trennung zwischen unterhaltender und ‘ernster’ Musik gab, in denen der Begriff vom unantastbaren Kunstwerk noch unbekannt war und Werke großer Komponisten gerne auch mal in Bearbeitungen und Paraphrasen erklingen durften. Es gab noch keine auf Tonträgern konservierte Musik – wer die Zauberflöte oder Carmen hören wollte, ging entweder ins Opernhaus oder musizierte die Werke selbst in Bearbeitungen. Die Reihe Joy of Music vermittelt uns diese unmittelbare Freude an der Musik ins 21. Jahrhundert.
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