Orchestrale Pracht & opernhafte Melodik

Kirchenmusik italienischer Opernkomponisten des 19. Jahrhunderts

von Guido Johannes Joerg (22.01.2025)

Ganz klar: Italien ist die Wiege der Oper. Aber ihr Fundament, auf dem sich diese Tradition entwickeln konnte, ist die Kirchenmusik. Verdi, Puccini, Donizetti – sie alle wurden von der reichen kirchenmusikalischen Tradition ihrer Heimat maßgeblich geprägt. Begeben Sie sich mit Guido Johannes Joerg auf Spurensuche!

Dieser Beitrag erschien zuerst im Carus-Blog.

Dass einerseits die italienische Kirchenmusik und andererseits die italienische Opernmusik des 19. Jahrhunderts gelegentlich recht ähnlich klingen, ist eine kaum zu bestreitende und leicht nachzuprüfende Tatsache. Die Komponisten bedienten sich eines gleichen Materials, arbeiteten mit derselben Technik – und sie fußten auf einer generalistischen Ausbildung, die sie an einer kirch- oder staatlichen Lehranstalt erworben hatten. Mit gründlicher Kenntnis von Kontrapunkt und Harmonielehre war ebenso eine Oper wie eine Messe zu schaffen. Und selbstverständlich auch ein weltliches oder geistliches Chorwerk, ein Klavier- oder Orgelstück usw. Einige Techniken blieben dabei der einen oder anderen Gattung vorbehalten; so taucht etwa die strenge imitatorische Form der Fuge in der Oper höchstens in knappen Fugati auf.

Stand auch die Oper eindeutig im Mittelpunkt des musikalischen Interesses – nur damit war ein überregionaler Ruhm zu erwerben –, so war die Kirchenmusik im Alltag der Menschen vermutlich stärker präsent. Die meisten Gotteshäuser unterhielten Kirchenchöre und -orchester, Kapellmeister komponierten – und sie zogen den musizierenden und komponierenden Nachwuchs heran. Kaum ein Musiker des 19. Jahrhunderts, der seine Laufbahn nicht in Kirchenchor oder banda (der Blaskapelle) begann. Die guten finanziellen Möglichkeiten vieler Kirchengemeinden erlaubten selbst großbesetzte Chor- und Orchesterwerke in Gottesdienst und Konzert; nicht bloß zu Hochfesten des Kirchenjahres. Und wer den Strapazen des Opernbetriebs nicht gewachsen war, konnte als komponierender Kapellmeister ein solides, ruhiges Dasein fristen. Viele wurden angesehene Musiker, Komponisten, Lehrmeister – aber niemand wurde „berühmt“; denn das war denjenigen vorbehalten, die erfolgreiche Opern ablieferten. Kapellmeisterstellen an Fürstenhöfen waren – anders als etwa im kleinstaatlich zergliederten Deutschland – rar.

Kaum einer der bedeutenden italienischen (Opern-)Komponisten des 19. Jahrhunderts stammt aus einer Metropole. Als Hauptstädte von Kunst und Kultur galten ohnehin nur Mailand in Nord- und Neapel in Süditalien. Rom, Venedig, Florenz oder Bologna waren Mittelzentren. Doch selbst in kleinen Städten bot eine Kathedrale einen regelmäßigen, ein Opernhaus einen saisonalen musikalischen Betrieb (stagione). Gioachino Rossini machte seinen Anfang in Pesaro, dann in Bologna, Gaetano Donizetti in Bergamo, Vincenzo Bellini in Catania (alle als Chorknaben). Giuseppe Verdi vertrat in Le Roncole bei Busseto den Dorforganisten. Amilcare Ponchielli stammte aus einem Dorf in der Provinz Cremona (anfangs Organist), Alfredo Catalani und Giacomo Puccini aus Lucca, Pietro Mascagni aus Livorno. Der in Neapel geborene Ruggero Leoncavallo verlebte seine Kindheit in einem kalabrischen Dorf. Die meisten studierten am Konservatorium einer Provinzgemeinde; bis auf Ponchielli in Mailand, Bellini und Leoncavallo in Neapel. Verdi wurde privat unterrichtet, nachdem ihn das Mailänder Konservatorium abgelehnt hatte. Und in Mailand setzten Puccini und Mascagni nach Abschluss ihres Studiums in Lucca respektive Livorno ihre Musikausbildung bei Ponchielli fort.

Aufgrund der Regularien der Lehranstalten schlossen die meisten ihre Ausbildung mit der Komposition einer (weltlichen) Kantate oder einer Messe ab. Auf diese Weise etwa sind Catalanis Messa (1872) und Puccinis Messa a 4 voci (1880) entstanden. Mascagni, der 1885 sein Studium in Mailand abgebrochen hatte, schuf seine „Messa di Gloria“ 1888, während er die Musikschule der apulischen Kleinstadt Cerignola leitete. Ihre ungewöhnliche Besetzung ist der örtlichen Situation geschuldet. Da die Messe unmittelbar vor seiner Oper „Cavalleria rusticana“ entstand, mit der er im Mai 1889 den Kompositionswettbewerb des Verlages Sonzogno gewinnen konnte und deren Uraufführung im Mai 1890 in Rom ein unvergleichlicher Erfolg werden sollte, finden sich auch musikalische Entsprechungen zwischen der Messe und dem Operneinakter. Puccini bildete einige später berühmt gewordene Opernmelodien sowohl in der „Messa a 4 voci“ (auch als „Messa da Gloria“ bekannt) als auch in einigen seiner jüngst wiederentdeckten Klavierstücke vor.

Neuheit: Pietro Mascagni, Messa di Gloria F-Dur

Hätten sich alle diese Komponisten nicht auf die physisch und psychisch herausfordernde Ochsentour von Oper und Opernbetrieb gemacht, wären ihre Namen heute wohl kaum ähnlich bekannt oder berühmt, und es würde am Ende auch ihre Kirchenmusik nicht aufgeführt. Die meisten der seinerzeit erfolgreichen Opernkomponisten schufen gar nicht für die Mailänder Scala oder das Teatro San Carlo in Neapel, sondern für Provinzbühnen. Ihre Namen waren Legion – und sie sind mittlerweile überwiegend vergessen. Doch waren es deren Werke, die das Gros der Spielpläne bestimmten, denn die Opern der wenigen Berühmtheiten hätten niemals ausgereicht, die immense Nachfrage auch nur annähernd zu befriedigen. Das Publikum dürstete eher nach Novitäten als nach schon Wohlbekanntem. Und um weltberühmt zu werden, reichte es noch lange nicht, wenn die Opern in Mailand oder Neapel aufgeführt wurden. Dazu mussten sie auch im Ausland erfolgreich sein. Es erstaunt wenig, dass die heute weltberühmten italienischen Komponisten des 19. Jahrhunderts von der Pariser Opéra für Uraufführungen verpflichtet wurden. Dieses Haus war das bedeutendste im „langen“ 19. Jahrhundert. Rossini, Donizetti, Bellini und Verdi schufen so neue Opern für Paris. Im 20. Jahrhundert löste die New Yorker Metropolitan Opera allmählich die Pariser Opéra ab: Puccinis „La fanciulla del West“ (1910) und „Il trittico“ (1918) wurden in der Neuen Welt bestellt und uraufgeführt.

Ob Musik nach Kirchenraum oder Opernhaus klingt, ob ein Streichquartett langweilig oder aber hochspannend ist, endscheidet letztlich der Geschmack jedes Einzelnen. Auch die Kirchenmusik von Giovanni Pierluigi da Palestrina und Claudio Monteverdi verzichtet nicht auf klangprächtige Effekte. Auch Georg Friedrich Händels Kirchen- und Opernmusik sind sich nicht ganz unähnlich. Ferner ist es historisch einzuordnen, denn ein musikalischer Stil wurde immer wieder anders empfunden. In Italien war es im 19. Jahrhundert nicht unüblich, Messen aus bekannten Opernnummern zu kompilieren und im Gottesdienst zu musizieren. Im katholischen Gottesdienst Frankreichs ab den 1850er-Jahren waren die heiteren Orgelstücke von Louis Lefébure-Wély beliebt, die manchmal in eine gefährliche Nähe zum Geklingel einer Jahrmarktorgel oder eines Orchestrions geraten. In Italien wurden gerne an der Orgel einfach gesetzte Märsche und andere Tänze gespielt – auch Puccinis frühe Orgelwerke bezeugen dies. Selbstverständlich klingt in Mascagnis Messa auch „Cavalleria rusticana“ an; Rossinis „Stabat Mater“ und Verdis „Messa da Requiem“ sind „opernhaft“, denn sie sollten beeindrucken (dass beide auch subtilere Kirchenmusik zu schaffen vermochten, beweisen in Falle Rossinis etwa einige A-cappella-Chorsätze, im Falle Verdis die „Quattro pezzi sacri“).

Giuseppe Verdi, Ave Maria (aus „Quattro pezzi sacri“)

Ponchiellis Messe in A-Dur (auch bekannt unter dem Namen „Messa per la notte di natale“), zum Weihnachtsfest 1882 uraufgeführt, nachdem er zum Kapellmeister der Basilica di Santa Maria Maggiore in Bergamo berufen worden war, beeindruckt durch ihre hochfestliche Pracht. Es war das erste größere Werk, mit dem er dieses Amt quasi „inaugurierte“.

Das Programm des Carus-Verlags bietet eine breite Spannweite an großen und kleineren, mal plakativeren und mal innigeren Werken geistlicher Musik aus dem Italien des 19. Jahrhunderts – und weit darüber hinaus. Für jeden Geschmack dürfte etwas mit dabei sein.

Dieser Beitrag erschien zuerst im Carus-Blog, in dem Expertinnen und Experten für geistliche und weltliche Chormusik regelmäßig über ihre aktuellen Lieblingsthemen schreiben. Lass Dich inspirieren, informieren und begeistern! Wir danken für die freundliche Genehmigung der Zweitveröffentlichung.

Guido Johannes Joerg

Homepage:https://www.gjjoerg.de/

Guido Johannes Joerg hat als Herausgeber zahlreiche vergessene Kompositionen wiederbelebt, mit einem Schwerpunkt auf italienischer Musik des 19. Jahrhunderts. Er war an der Rossini-Renaissance beteiligt, auch mit mehreren Rossini-Ausgaben bei Carus.

Alle Noten-Ausgaben von Guido Johannes Joerg

Ganze Bio

Joerg absolvierte Studien der Kirchenmusik an der Bischöflichen Kirchenmusikschule Trier sowie Musikwissenschaft, Bibliothekswissenschaft und der Germanistik (unter anderem bei Klaus Wolfgang Niemöller, Volker Neuhaus und Paul Kaegbein) an der Universität zu Köln und erlangte 1989 den Magister-Abschluss mit der Schrift „Rossinis Kantaten. Probleme ihrer Überlieferung“. Anschließend war er von 1987 bis 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Rossini Opera Festival Pesaro. In den Jahren 1992 und 1993 wirkte er als Chefdramaturg beim Rossini Opernfestival Rügen, von 1993 bis 1995 als Dramaturg am Stadttheater Bremerhaven (Bereich Musiktheater) und von 1995 bis 1997 als musikalischer Projektleiter bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen. Darüber hinaus war er Chefredakteur des Bielefelder Katalog Klassik (2001–2003) Abteilungsleiter „Kataloge“ bei der Motor Presse Stuttgart..

Joerg ist Herausgeber zahlreicher Erstausgaben, zum Beispiel im Rahmen der „Edizione critica delle opere di Gioachino Rossini“ (Fondazione Gioachino Rossini); darunter unter anderem Werke von Gioachino Rossini, Ludwig van Beethoven, Hermann Bendix, Arrigo Boito, Marco Enrico Bossi, Max Bruch, Girolamo Crescentini, Gaetano Donizetti, Francesco Florimo, Ferdinand Hiller, Friedrich Kiel, Eugen Lasch, Teodulo Mabellini, Johann Martin Friedrich Nisle, Ferdinand Ries, Antonio Salieri, Georg Schmitt, Guido Tacchinardi, Daniel Friedrich Eduard Wilsing und Alberto Zelman.

Joerg ist zudem Autor von musikwissenschaftlichen Veröffentlichungen und Vorträgen.

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